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Leseprobe aus: Esslinger-Hinz, Schulpädagogik, ISBN 978-3-407-34203-4 2011 Beltz Verlag, Weinheim /gesamtprogramm.html?isbn 978-3-407-34203-4
10 Leseprobe aus: Esslinger-Hinz, Schulpädagogik, ISBN 978-3-407-34203-4 2011 Beltz Verlag, Weinheim Basel1.Einführung – Was ist Schulpädagogik?1.1Gegenstands- und Theoriefelder der SchulpädagogikDie Schulpädagogik stellt eine Teildisziplin der Erziehungswissenschaft darund bildet die Bezugswissenschaft für die Lehrerbildung in Deutschland. IhrGegenstandsfeld sind Erziehungs- und Bildungsprozesse innerhalb von Schuleund Unterricht. Die systematische und vergleichende Beschreibung der Schuleals Institution und ihre Begründung (Schultheorie) bilden ein Teilgebiet derSchulpädagogik. Weiterhin richtet sich die Aufmerksamkeit der Disziplin aufdie Inhalte des Lernens und die Begründungen für die Auswahl von Lerninhalten (Curriculumtheorie; Lehrplantheorie). Im Hinblick auf den Unterrichtwidmet sich die Schulpädagogik den Lehr-Lern-Prozessen bzw. der Vermittlungsaufgabe (Unterrichtstheorie), aber auch einer Gesamtbeschreibung vonLehr-Lern-Prozessen (Allgemeine Didaktik). Die Schulpädagogik beschäftigtsich mit der Profession, der Professionalität und der Professionalisierung imLehrerberuf (Professionstheorie), mit der Weiterentwicklung der Einzelschule(Schulentwicklungstheorie) sowie mit dem Aufbau von Schulsystemen undSteuerungsfragen im Schulsystem (Schulsystemtheorie). Sie thematisiert in allen genannten Bereichen die Mängel im schulischen Erziehungs- und Bildungssystem (Schul- und Unterrichtskritik). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Gegenstandsfeld der Schulpädagogik durch theoretische, empirische und praktische Ergebnisse und Konzepte abgesteckt ist, derenReferenzpunkt die Schule darstellt. In der Schulpädagogik werden europäischeund internationale Entwicklungen vergleichend aufgegriffen, Schule und Unterricht systematisch und historisch betrachtet.Diese bereichsbezogene Beschreibung der Schulpädagogik wird gelegentlich problematisiert: Die Konsistenz der Disziplin wird angezweifelt, da dieBeiträge anderer Sozialwissenschaften (z. B. Pädagogische Psychologie, Soziologie) sich ebenfalls auf Schule und Unterricht beziehen, jedoch nicht derSchulpädagogik zuzuordnen sind. Zum anderen werden die Grenzen zwischenden Themenfeldern im Hinblick auf die Systematik unterschiedlich gezogen,in etwa indem die Schulkritik als Element der Schultheorie betrachtet wirdoder indem Hierarchien zwischen den genannten Bereichen gebildet werden(z. B. Unterrichtstheorie als Element der Schultheorie) oder indem Komplementärverhältnisse angenommen werden (Lehrplantheorie als Pendant zurSchultheorie).
Leseprobe aus: Esslinger-Hinz, Schulpädagogik, ISBN 978-3-407-34203-4 2011 Beltz Verlag, Weinheim BaselDie Schulpädagogik als akademische Disziplin heute1.2Die Schulpädagogik als akademische Disziplin heuteDie Schulpädagogik zählt zu den Sozialwissenschaften. SchulpädagogischeForschung stellt heute empirische Forschung mit den Methoden der empirischen Sozialforschung dar. Der Weg dahin war weit, weil Schulpädagogik zumeinen in einer geisteswissenschaftlichen Tradition verankert war und weil sieihre Theorien und Modelle zunächst über die benachbarten Sozialwissenschaften bezog (z. B. Rollentheorie, Psychoanalyse). Die Schulpädagogik ist heuteals empirische Wissenschaft, als hermeneutische Wissenschaft und als kritischeWissenschaft zu beschreiben. Der Wissenschaftsstatus der Schulpädagogikwird aufgrund dieser dreifachen Ausrichtung, Aussagen über die schulischeWirklichkeit empirisch zu sichern, normative Aussagen treffen zu müssen undSchule und Unterricht verbessern zu wollen, auf der Grundlage eines Wissenschaftsverständnisses, das ausschließlich empirisch fundiert ist, kritisch bewertet. Die genannten Entwicklungsstränge können aber auch als Chance undVorteil der Disziplin gesehen werden. Im Zuge der internationalen Vergleichsuntersuchung lässt sich eine »Empirisierung« der Disziplin verzeichnen. DieAnerkennung als Sozialwissenschaft hat zugenommen. Zugleich werden dieGrenzen ausschließlich empirischer Zugänge deutlich und die Bedeutung derInterpretation von Ergebnissen, ihre Praxisrelevanz sowie Implementation inPraxiszusammenhänge stärker in den Blick genommen.Der Empirieschub der Schulpädagogik hat den Status der Disziplin als Wissenschaft gesteigert. Die Forderungen, Forschungsergebnisse an die Praxisrückzubinden, sind eher spärlich, werden aber im Zuge von Schulevaluationen/Diagnosearbeiten thematisiert, da hier Untersuchungen mit dem Ziel einer verbesserten Praxis vorgenommen werden. Vor diesem Hintergrund einerveränderten Selbstdefinition der Schulpädagogik ist das Verhältnis zur systematischen Erziehungswissenschaft neu zu bestimmen. Aktuell werden imschulpädagogischen Diskurs verstärkt soziologische und psychologische Ansätze rezipiert. Korrespondierend sind wissenschaftstheoretische Entwicklungslinien, insbesondere systemtheoretische sowie konstruktivistische Ansätze, neu hinzugekommen und haben die geisteswissenschaftliche Theorietradition abgelöst.Forschungsmethodisch sind in der Schulpädagogik qualitative, quantitativesowie kombinierte Zugänge (Triangulation/Mixed Method Research) üblich.Der empirischen Forschung kommt derzeit ein großes Gewicht zu (Wellenreuther 2009). Aktuell besteht die Tendenz, die Sozialwissenschaften unter demDach der empirischen Schul- und Bildungsforschung zu vereinen. Diese empirische Ausrichtung hat auch programmatischen Charakter, da die Orientierung an marktwirtschaftlichen Prinzipien stattfindet und daher kritisiert wird(Casale et al. 2010). 11
12 Leseprobe aus: Esslinger-Hinz, Schulpädagogik, ISBN 978-3-407-34203-4 2011 Beltz Verlag, Weinheim BaselEinleitung – Was ist Schulpädagogik?1.3WeiterführendeLiteraturRoters, B./Schneider, R./Koch-Priewe, B./Thiele, J./Wildt, J. (Hrsg.) (2009):Forschendes Lernen imLehramtsstudium. Hochschuldidaktik – Professionalisierung – Kompetenzentwicklung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.Theorie-Praxis-VerhältnisZum Theorie-Praxis-Verhältnis lassen sich heterogene Positionen feststellen.Zum einen gibt es Stimmen, die von einem nahtlosen Zusammenhang ausgehen. Demnach ergänzen sich theoretisches und in Praxissituationen erworbenes Wissen. Sie wird durch die angloamerikanische Experten-Novizen-Forschung gestützt, die zeigt, dass Lehrerinnen und Lehrer Integrationsleistungenerfüllen.Daneben gibt es Positionen, die die Differenz zwischen wissenschaftlichemWissen und Praxiswissen hervorheben und die die Verzahnung problematisieren. Sie akzentuieren, dass wissenschaftliches Wissen aus den Handlungszusammenhängen herausgenommen ist, mittels bestimmter Methoden erhobenwird und die Ergebnisse in einer Fachsprache präsentiert werden. Da die Logikder Genese wissenschaftlichen Wissens gänzlich anders verlaufe als das überPraxen erworbene Wissen, sei eine einfache Verzahnung von Theorie und Praxis nicht möglich. Der korrespondierende Befund, dass Theoriestudien kaumPraxisrelevanz zeitigen, ist ernüchternd und wird regelmäßig repliziert: Lehrerinnen und Lehrer orientieren sich in ihrer Praxis nur wenig an Theorien, dieim Studium erworben wurden. Diese Differenzhypothese bietet eine Argumentationsgrundlage, um eine universitäre Verselbstständigung von Theoriejenseits der Praxis zu forcieren.Geht man von einer Integration aus (Nölle 2002), so wird hochschuldidaktisch die Verzahnung von Theorie und Praxis besonders bedeutsam und mussauch strukturell (z. B. Verzahnung von Praxisphasen und Lehr-Lern-Formatenim Studium) vorgesehen sein. Die Ergebnisse der Wissensverwendungsforschung zeigen, dass das Lernen in Praxissituationen besonders nachhaltig ist;hierzu zählt auch der Befund, dass Studierende konventioneller Studiengänge(hoher Theorieanteil) theoretisch weniger strukturierend über Unterrichtsprechen können als Studierende mit höheren Praxisanteilen und geringerenTheorieanteilen während des Studiums (Czerwenka/Nölle 2001). Die Verzahnung von Theorie- und Praxisanteilen im Studium stellt hochschuldidaktischeine Herausforderung dar. Das forschende Lernen bietet hier eine konzeptionelle Grundlage.1.4Historische EntwicklungslinienDie Schulpädagogik bildete sich mit der Einführung des Schulwesens bzw. mitder Ausbildung der Profession des Lehrers heraus. Der Begriff selbst wurdeerstmals von Georg Simmel verwendet, der im Wintersemester 1915/16 an derUniversität Straßburg eine Vorlesung unter diesem Titel hielt. Die Mehrzahlder ersten Publikationen zu schulpädagogischen Fragen (ohne den Begriff»Schulpädagogik« zu verwenden) lagen bereits im 19. Jahrhundert vor; sie wa-
Leseprobe aus: Esslinger-Hinz, Schulpädagogik, ISBN 978-3-407-34203-4 2011 Beltz Verlag, Weinheim BaselAktuelle Herausforderungenren praxisorientiert und doch durchwirkt von ersten systematischen Überlegungen (z. B. Diesterweg 1835). Prägend für die sich ausbildende Schulpädagogik waren die Schriften von Herbart (1746–1841). Diese wurden intensiv rezipiert und interpretiert. Die sogenannten Herbartianer entwickelten Unterrichtslehren, die den Kritik- und Ansatzpunkt für die reformpädagogischeBewegung in den 1920er-Jahren bildeten. Sie war wiederum ein zentraler Impulsgeber für die Herausbildung der Schulpädagogik als wissenschaftliche Disziplin. Nach 1945 brauchte es in Westdeutschland etwa 15 Jahre, um zu einerNeuorientierung zu gelangen, weil man sich rückorientierte und zunächst andie Pädagogik der Weimarer Zeit angeknüpft wurde. Dreh- und Angelpunktder damaligen Unterrichtslehre bzw. praktischen Pädagogik waren der Unterricht und seine Gestaltung. Lehrerinnen und Lehrer wurden im 19. Jahrhundert sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Lehrerseminaren ausgebildet. Erst in den 1960er- und 1970er-Jahren blühte der schulpädagogischeDiskurs auf; die Schulpädagogik schälte sich als Teildisziplin der Erziehungswissenschaft heraus. Diese Entwicklung ist an die Akademisierung der Lehrerbildung geknüpft. Einen weiteren Motor bildete der intensive wissenschaftstheoretische Diskurs dieser Jahre (Roth 1963a) und die Neujustierung derSchulpädagogik in Richtung empirische Forschung.1.5Aktuelle HerausforderungenBesonders hervorstechend im aktuellen internationalen Diskurs ist das Themader Qualitätsentwicklung von Schule und Unterricht. Die Idee des Messensund des Vergleichens trifft derzeit im internationalen Kontext sowie in vielenLebensbereichen (Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Bildung) auf große Akzeptanz. Das gilt auch für die Schulpädagogik im deutschsprachigen Raum. Internationale Schulvergleichsuntersuchungen (z. B. PISA) attestierten dem deutschen Schulsystem eine zu geringe Leistungsfähigkeit und führten im deutschsprachigen Raum zu einer Festlegung (Standardisierung) von Kompetenzen,deren Einlösung auf Schülerseite mittels verschiedener Formen der Evaluationkontrolliert wird. Diese Entwicklung geht mit einer an Kompetenzen orientierten Idee von Bildung sowie einer sogenannten »Outputorientierung« einher und nimmt Abschied von einem Bildungskanon. Damit ist eine Antwortauf die gesellschaftliche Herausforderung zunehmender Globalisierung gefunden, zugleich ist der intensive kritische Diskurs aufgrund der Institutionalisierung des Gesamtkonzepts, das sich mit den Stichwörtern »Standards, Kompetenzen, Evaluation« benennen lässt, geschmälert. Die allgemeine Didaktik erfährt eine Marginalisierung bis hin zu Stimmen, die ihre Abschaffung fordern.Pendelbewegungen zwischen Messen/Evaluieren einerseits und Schülerorientierung/Erziehung andererseits lassen sich historisch rekonstruieren: 1964diagnostizierte Picht »die deutsche Bildungskatastrophe«. In der Folgezeit 13WeiterführendeLiteraturHerrlitz, H.-G./Hopf, W./Titze, H. (52008): Deutsche Schulgeschichte von1800 bis zur Gegenwart:Eine Einführung. Weinheim: Juventa.
14 Leseprobe aus: Esslinger-Hinz, Schulpädagogik, ISBN 978-3-407-34203-4 2011 Beltz Verlag, Weinheim BaselEinleitung – Was ist Schulpädagogik?WeiterführendeLiteraturHopmann, S./Brinek, G./Retzl, M. (Hrsg.) (2007):PISA zufolge PISA/ PISArecording PISA. Hält PISA,was es verspricht? DoesPISA keep what it promises? Wien: LIT-Verlag.wurden Konzepte zur Lernzielorientierung, zur Operationalisierung, Kategorisierung, Dimensionierung und Evaluation entwickelt. In dieser Zeit der Curriculumstheorie wurde der Bildungsbegriff hintangestellt. In der Folgezeit lässtsich eine Pendelbewegung feststellen: In den 1980er-Jahren wurden Bildungstheorie und erziehender Unterricht wieder neu entdeckt. Derzeit flacht die amMessen orientierte Sicht auf Schule und Unterricht zwar noch nicht ab; ersteBefunde zur mangelnden Wirksamkeit von Evaluation im Hinblick auf dieQualitätsverbesserung von Schule und Unterricht liegen jedoch vor, und dieIdeologisierung und die Programmatik von Evaluation werden kritisch diskutiert (Nichols/Berliner 2007). Zeichnet man diese Pendelbewegung zwischenFestschreibung von Zielperspektiven und deren Messung einerseits und derOrientierung an Erziehungs- und Bildungsbegriffen andererseits weiter, sodürfte eine Neuorientierung in Richtung Bildung anstehen. Der aktuelle Diskurs zum Thema »Inklusion«, Heterogenität, Altersmischung sowie die Bedeutung sozialer Kompetenzen könnte hierbei ein Ansatzpunkt sein. Zugleichmuss gesehen werden, dass es sich derzeit um einen globalen Prozess handelt,da das Bildungswesen insgesamt global zu regulieren versucht wird. »Effizienz«und »Steuerung« sind daher Hochwertwörter, die zu einem Transformationsprozess gehören, der über das deutsche Schulwesen hinausgeht und innerhalbdes deutschen Schulwesens institutionell und somit rechtlich (Verwaltungsvorschriften, Reform von Studiengängen, Prüfungsordnungen) verankert ist.Die rückläufige demografische Entwicklung der deutschen Bevölkerung,das steigende Anforderungsprofil der Arbeitsplätze, die zunehmende Technologisierung sowie die Globalisierung machen das Thema »Bildung« zur bedeutsamsten Ressource, um die Herausforderungen
Die Schulpädagogik als akademische Disziplin heute 11 1.2 Die Schulpädagogik als akademische Disziplin heute DieSchulpädagogik zählt zu den Sozialwissenschaften.Schulpädagogische