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Clemens HarasimDie Quartalsmusiken von Carl Philipp Emanuel Bach.lhre Quellen, ihre Stilistik und die Bedeutung des ParodieverfahrensUmschlaggestaltung: David CíglerZugl. Univ.Diss., Leipzig 2008 Tectum Verlag Marburg, 2010ISBN 978-3-8288-5278-5(Dieser Titel ist als gedrucktes Buch unter derISBN 978-3-8288-2325-9 im Tectum Verlag erschienen.)Besuchen Sie uns im Internetwww.tectum-verlag.deBibliografische Informationen der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sindim Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
INHALTVorwort7Einleitung9I. Der Gegenstand. Werkbestand und Quellen1. Ermittlung und Definition des Werkbestands2. Die einzelnen Quellen3. Beispiele23233338II. Ergänzungen zum Aufführungskalender59III. Fassungen1. Hamburger Aufführungspraxis2. Exempel und Sonderfall: Die Ostermusik von 17562. 1. Zur Entstehung und Uraufführung2. 2. Die Fassungen von Wq 244 / H 8032. 3. Die Sekundärquellen und ihre Bedeutungfür die Rezeption und den Werkcharakter2. 4. Der Werkcharakter und analytische Überlegungen6969727282IV. Parodien und Übernahmen1. Allgemeine Überlegungen2. Übernahmen2. 1. J. S. Bach, Benda, Homilius und andere2. 2. Unveränderte Übernahmen aus eigenen Werkenoder von eigenen Werken2. 3. Die Choräle3. Parodien3. 1. Parodien aus dem Magnificat3. 2. Parodien aus anderen eigenen Vokalwerken3. 3. Parodien und Bearbeitungen von Fremdwerken4. „Anpassungen“4. 1. Das Instrumentarium4. 2. Die Tonarten4. 3. Die Texte4. 4. Weitere Überlegungen zu den Libretti. HamburgerFreiheit und das Problem der 292292296297303
Anhang I.Die Texte der Quartalsmusiken321Anhang II.Incipits der Satzanfänge371Abkürzungen407Literatur und gedruckte Dokumente409
7VORWORTDie Erforschung der Quartalsmusiken, d.h. der kirchlichen Festkantaten zu den Hochfesten Weihnachten, Ostern, Pfingsten undMichaelis, von Carl Philipp Emanuel Bach ist dankbare Aufgabe undmühevolle Herausforderung zugleich. Dankbar ist sie vor allem deshalb,weil sie Gelegenheit bietet, sich mit außerordentlich reizvoller Musikeines „Originalgenies“ des 18. Jahrhunderts auseinanderzusetzen unddabei zum Teil methodische Grundlagenforschung zu betreiben, garmusikwissenschaftliches Neuland zu betreten und Quellen zu studieren,die zuvor wohl nur von einigen wenigen Augen je gesichtet wordensind. Mühevoll ist es vor allem, gegen zum Teil bis heute vorherrschendeästhetische Vorbehalte angehen zu müssen und sich nicht zuletztdeshalb auf detaillierte Einzelbetrachtungen und neue Methoden einzulassen. Bei all dem kann nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich –wie bei wohl fast jeder wissenschaftlichen Arbeit – um Stückwerk handelt. Es ist unmöglich, dem zu behandelnden Werkbestand im Rahmeneiner Dissertation auch nur annähernd gerecht zu werden; gleichwohl istman nicht dagegen gefeit, aufgrund weiterer Studien oder neuer Quellenfunde manche Thesen der Arbeit erweitert, modifiziert oder garrevidiert zu finden.Ich hatte Gelegenheit, als Mitarbeiter im Forschungsprojekt BachRepertorium der Sächsischen Akademie der Wissenschaften (Leipzig) inZusammenarbeit mit dem Bach-Archiv (Leipzig) und dem PackardHumanities Institut (Los Altos, CA) in einem Zeitraum von etwa sechsJahren Einblick in die musikalische Quellenforschung, wissenschaftlicheEdition und Methoden der biographischen Forschung zu nehmen. Dabeikonnte ich auch problemlos relevante Quellen einsehen. Überdies warenmir hier stets die Quellenkopien der Bach-Sammlungen StaatsbibliothekBerlin und Singakademie Berlin auf den Microfishs des Saur-Verlagszugänglich.Ich möchte all denen danken, die mir in den verschiedenen Phasender Arbeit, von der ersten Idee über die Konzeption und die Einzelbetrachtungen bis hin zu ihrer Fertigstellung auf unterschiedliche Art undjeweiligen individuellen Fähigkeiten entsprechend Rat gegeben, Unterstützung angeboten und – vor allem – Motivation gespendet haben, unddie damit die Studie erst ermöglichten. Vor allem gilt mein Dank meinem Betreuer Prof. Dr. Helmut Loos (Leipzig). Ihm, Herrn Prof. Dr. Dr.Christoph Wolff (Cambridge/Leipzig) und Dr. Ulrich Leisinger (Salzburg) habe ich nicht nur die Idee für das Thema der Studie zu verdanken, auf Ihren Antrag hin wurde mir auch in der Anfangsphase derDissertation im Jahr 2005 ein Promotionsförderplatz der Universität
8Leipzig bewilligt, für den ich mich ebenfalls bedanke. Ebenso bedankenmöchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Hans-Günter Ottenberg (Dresden).Meinen Kollegen vom Forschungsprojekt Bach-Repertorium sei, wieauch den Mitarbeitern des Packard Humanities Institut „C. P. E. Bach.The Complete Works“, namentlich Dr. Paul Corneilson und Dr. MarkKnoll (beide Cambridge, MA), gedankt. Den Bibliotheken Bach-ArchivLeipzig, Städtische Musikbibliothek Leipzig, Staatsbibliothek Berlin,Landesbibliothek Schwerin, Marienbibliothek Halle, dem Unitätsarchivder Brüdergemeine Herrnhut und dem Pfarrarchiv Augustusburg seigedankt für die Möglichkeiten der Einsichtnahme in Handschriften ihrerSammlungen. Für die Hilfe beim Layout des Buches danke ich LucieBerná (Hradec Králové) sowie David Cígler (Prag), der das Cover entwarf. Herzlich bedanke ich mich schließlich bei den vielen Verwandtenund Freunden, besonders bei meiner Mutter Dorothea Harasim, die denfertigen Text redigierte, meinem Vater Wolfgang Harasim und BärbelBöhm.
9EINLEITUNGDie kirchlichen Festkantaten Carl Philipp Emanuel Bachs: EinThema, das schon vielfach im Blickpunkt der musikwissenschaftlichenForschung stand und schon Gegenstand zahlreicher Untersuchungenwar – so möchte man jedenfalls meinen, bedenkt man, dass es sich beider Kantate um die wohl wichtigste Gattung der protestantischenKirchenmusik und bei Carl Philipp Emanuel Bach um einen der bekanntesten Komponisten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts handelt, derdarüber hinaus über 20 Jahre lang Kirchenmusikdirektor in Hamburgwar und in dieser Funktion (als Nachfolger Georg Philipp Telemanns)nicht nur für die liturgische Kirchenmusik an den fünf Hauptkirchen,sondern letztlich für die Kirchenmusik der gesamten Stadt die Verantwortung trug.Jedoch ist festzustellen, dass das Forschungsinteresse diesbezüglich auffallend gering war und – von wenigen Ausnahmen abgesehen –erst in den letzten Jahren spürbar zugenommen hat. Die Studien, die sichmehr oder weniger akribisch mit der Hamburger Kirchenmusik Bachsbeschäftigen, sind bislang sehr übersichtlich. So ist bezeichnend, dass dieerste Studie zum Thema überhaupt, die Dissertation von HeinrichMiesner aus dem Jahr 19291, bis heute als grundlegend angesehen werden muss. Sie ist auch die einzige Studie, die den Werkbestand derSammlung der Berliner Sing-Akademie berücksichtigt, die ihre Türendanach jedoch fest verschlossen hielt, bis sie schließlich nach demZweiten Weltkrieg überhaupt nicht mehr zugänglich war. Ihre Sammlung galt bis zum Jahr 1999 als verschollen.2Die beiden neueren amerikanischen Dissertationen von Stephen L.Clark3 und Reginald L. Sanders4 müssen als vorläufig gelten, da beideStudien die zahlreichen Quellen der Berliner Singakademie unberücksichtigt lassen mussten. Dennoch liefern diese Studien mit Hilfe unterschiedlicher Methoden wesentliche und bis jetzt gültige Fakten: Clarkstützt sich mangels musikalischer Quellen vor allem auf die – wenn auchnicht sehr zahlreich erhaltenen – Libretti; Sanders liefert, vor allem ge1234Heinrich Miesner, Philipp Emanuel Bach in Hamburg. Beiträge zu seiner Biographie und zurMusikgeschichte seiner Zeit, Wiesbaden 1929. (im Folgenden nur: Heinrich Miesner)Zur Wiederauffindung der Sammlung in Kiew siehe die Aufsätze von Christoph Wolff,Ulrich Leisinger, Peter Wollny und Christoph Henzel in: JbSIM 2002.Stephen L. Clark, The Occasional Choral Works of C. P. E. Bach , Diss. Princeton University1984. (im Folgenden nur: Stephen L. Clark)Reginald L. Sanders, Carl Philipp Emanuel Bach and Liturgical Music at the Hamburg PrincipalChurches from 1768 to 1788, Diss. Yale University 2001. (im Folgenden nur: Reginald L.Sanders)
10stützt auf Hamburger Archivalien, einen Aufführungskalender allernachweisbaren liturgischen Kirchenmusiken während der AmtszeitBachs. Dieser recht präzise Aufführungskalender bildet die Grundlagefür weitere Forschungen und ist nach und nach, nicht zuletzt aufgrundder neuen Quellenfunde, zu ergänzen. Zudem stellt Sanders die Tätigkeit Bachs in Hamburg unter Berücksichtigung der Studien Robert vonZahns5 und Joachim Kremers6 in den historischen Kontext des Musikdirektorats dieser Stadt. Überdies liefert Sanders wichtige Daten zu denBedingungen der Kirchenmusikausübung samt ausgewerteten Rechnungen und anderen Dokumenten sowie zu Sängern und Instrumentalisten,die Bach dafür zur Verfügung standen.Noch spärlicher nimmt sich die Zahl von Studien zu Einzelwerken,kompositionsgeschichtlichen oder gar analytischen Betrachtungen aus.Lediglich eine umfangreichere Arbeit zur Einzelbetrachtung der Ostermusik „Gott hat den Herrn auferwecket“ (Wq 244 / H 803) existiertbislang: Die Dissertation (Doctor of Musical Arts) von Eunice E. Rixmanaus dem Jahr 19697 befasst sich vornehmlich mit allgemeiner Aufführungspraxis und der Aussprache des deutschen Textes und genügt kaumheutigen musikwissenschaftlichen Ansprüchen. Aufgrund von Fehlernund Unklarheiten, beispielsweise zur Frage, welche Quellen Grundlageder Betrachtung waren, hat diese Arbeit kaum Relevanz. Zum selbenWerk äußerst sich Günther Wagner8. Die Einschätzungen sind Grundlage der Diskussion, wenngleich auch hier wesentliche Fragen zur Werkgestalt und äußeren Form der Kantate, für deren Kenntnisse vorausgehende genaue Quellenforschung unentbehrlich ist, unzureichend beantwortet werden. Die Dissertation von James Monroe Chamblee9 aus demJahr 1973 schließlich behandelt einige wenige Quartalsmusiken nur amRande. Im Vordergrund stehen die Oratorien und die bis dahin bekannten Sätze aus Passionsmusiken. Da hier überdies von falschen odernicht nachweisbaren Prämissen ausgegangen wird und die Fragestellungen an Grundlegendem vorbeigeht, haben auch die Schlußfolgerungen keinerlei erklärenden Wert.56789Robert von Zahn, Musikpflege in Hamburg um 1800, Hamburg 1991.Joachim Kremer,: Das norddeutsche Kantorat im 18. Jahrhundert. Untersuchungen am BeispielHamburgs, Kassel 1995.Eunice Elizabeth Rixman, The Sacred Cantata „God hath awakened the Lord“ by Carl PhilippEmanuel Bach, in Relation to its Performance, 2 Bde., Diss. University of Southern California1969, Ann Arbor 1970.Günther Wagner, „Carl Philipp Emanuel Bachs Osterkantate aus dem Jahre 1756“, in: CarlPhilipp Emanuel Bachs geistliche Musik. Bericht über das Internationale Symposium vom 12. bis16. März 1998 in Frankfurt (Oder), hrsg. von Ulrich Leisinger und Hans-Günter Ottenberg,Frankfurt (Oder) 2000, S. 30-40. (im Folgenden nur: Günther Wagner)James Monroe Chamblee, The Cantatas and Oratorios of Carl Philipp Emanuel Bach, 2 Bde.,Diss. University of North Carolina at Chapel Hill 1973.
11Spürbar nimmt das Interesse der musikwissenschaftlichenForschung und im Übrigen auch der musikalischen Praxis für die liturgische Kirchenmusik Bachs in den letzten Jahren, nicht erst seit derWiederauffindung der Notensammlung der Berliner Singakademie, zu.10Seitdem beleuchten kleinere publizierte Studien von Ulrich Leisinger11,Barbara Wiermann12, Reginald Sanders13 und Uwe Wolf14 in verschiedenen Sammelwerken wichtige Einzelaspekte, vor allem zur allgemeinen Situation der Kirchenmusik Hamburgs, und bezeugen ein langsamzunehmendes Forschungsinteresse in den letzten Jahren. Die Erschließung der Bachiana im Notenbestand der Berliner Singakademie durchKatalogisierung15, die fortschreitende erste Gesamtausgabe der WerkeCarl Philipp Emanuel Bachs16 und die systematische Forschungsarbeit zu10111213141516Das Interesse erstreckt sich nun nicht nur auf Werke, die als Unika seit der Sichtungdurch Heinrich Miesner quasi unberührt erst in Berlin und später in Kiew schlummerten,sondern auch auf längst bekannte Stücke, die vornehmlich in der Berliner Staatsbibliothekund anderen Orten lagerten.Ulrich Leisinger, „Carl Philipp Emanuel Bachs Kirchenkantaten. Eine Standortbestimmung“,in: JbSIM 2003, S. 116-125 (im Folgenden nur: Ulrich Leisinger, Kirchenkantaten). Hierwerden erstmals nach Heinrich Miesner die Quellen der Berliner Singakademie in dieBetrachtung einbezogen. Grundlegendes ist auch zu finden in: „Carl Philipp Emanuel Bachsverschollen geglaubte Trauungskantate H 824a im Kontext des Bearbeitungs- und Parodieverfahrens“, in: JbSIM 1999, S. 9-31 (im Folgenden nur: Ulrich Leisinger, Trauungskantate)und in: „’Es erhub sich ein Streit’ (BWV 19). Carl Philipp Emanuel Bachs Aufführungen imKontext der Hamburgischen Michaelismusiken“, in: BJ 1999, S. 105-126 (im Folgenden nur:Ulrich Leisinger, BWV 19).Die Auswertung der zeitgenössischen Hamburger Presse hinsichtlich des Musiklebensder Stadt durch Barbara Wiermann lieferte bereits zuvor wichtige Erkenntnisse: BarbaraWiermann, Carl Philipp Emanuel Bach. Dokumente zu Leben und Wirken aus der zeitgenössischen hamburgischen Presse (1767-1790), Hildesheim 2000 (Leipziger Beiträge zur Bachforschung 4) (im Folgenden nur: Barbara Wiermann, Dokumente). Weiterhin wichtig,wenn auch teilweise zu revidieren, sind die Überlegungen in: Barbara Wiermann, „CarlPhilipp Emanuel Bachs Gottesdienstmusiken“ in: Carl Philipp Emanuel Bachs geistliche Musik.Bericht über das Internationale Symposium vom 12. bis 16. März 1998 in Frankfurt (Oder),hrsg. von Ulrich Leisinger und Hans-Günter Ottenberg, Frankfurt (Oder) 2000, S.85-103(im Folgenden nur: Barbara Wiermann, Gottesdienstmusiken).Reginald L. Sanders, „Carl Philipp Emanuel Bach und die Musik im Gottesdienst der Hamburger Hauptkirchen“, in: Carl Philipp Emanuel Bachs geistliche Musik. Bericht über das Internationale Symposium vom 12. bis 16. März 1998 in Frankfurt (Oder), hrsg. von Ulrich Leisingerund Hans-Günter Ottenberg, Frankfurt (Oder) 2000, S. 104-121.Uwe Wolf, „Carl Philipp Emanuel Bach und der ‚Münter-Jahrgang’ von Georg Anton Benda“,in: BJ 2006, S. 205-228 (im Folgenden nur: Uwe Wolf).Die Bach-Quellen der Berliner Sing-Akademie zu Berlin. Katalog, bearbeitet von WolframEnßlin, 2 Bde., Hildesheim 2006 (Leipziger Beiträge zur Bach-Forschung 8, hrsg. vomBach-Archiv Leipzig). (im Folgenden nur: Kat. Sing-Akademie)Carl Philipp Emanuel Bach. The Complete Works, The Packard Humanities Institut in cooperation with the Bach-Archiv Leipzig, the Sächsische Akademie der Wissenschaften zuLeipzig, and Harvard University, Los Altos, CA 2004ff.
12Leben und Werk des Komponisten, wie z.B. die geplante Erstellungeines Vokalwerkverzeichnisses, eines Verzeichnisses der Notenbibliothek und Einzelstudien im Forschungsprojekt Bach-Repertorium, werden zukünftig der musikhistorischen Forschung gute Handreichungenund Anknüpfungspunkte bieten.Die Gründe für die bisherige Vernachlässigung des Kantatenschaffens Carl Philipp Emanuel Bachs mögen im Folgenden zu suchen sein:1.) Das Alte Handbuch für Musikwissenschaft spricht bezogen aufdie protestantische Kirchenmusik von einem „völligen Stillstand imkirchenmusikalischen Leben“17 nach dem Tode Johann Sebastian Bachs,also nach 1750. Selbst der von Georg Feder verfasste Abschnitt inFriedrich Blumes Standardwerk zur Geschichte der evangelischenKirchenmusik ist betitelt mit „Verfall und Restauration“18, wobei die Zeitdes Verfalls mit dem Tod des idealisierten Kantatenkomponisten JohannSebastian Bach beginne und bis 1817 und an einigen Orten noch bis indie Mitte des 19. Jahrhunderts reiche.19 Betroffen von diesem Verfall seivor allem die liturgisch gebundene Gattung der Kirchenkantate. Denn:„Der Wert des Gottesdienstes wurde in der Aufklärung nur nach seinererbaulichen Wirkung bemessen. [ ] Im allgemeinen wurde die traditionelle Liturgie in immer stärkerem Maße abgebaut, der Gottesdienstimmer einfacher “20 Ersetzt worden seien die liturgischen Formen derdeutschen Kirchenmusik durch außerliturgische, z.T. oratorischeKirchenstücke mit neuer formaler Gestalt; Stücke also, die ohne SeccoRezitative und Da-Capo-Formen auskommen, die durch fließendeÜbergänge und einen „einheitlichen Atem“ sowohl Dramatik als auchErbauung implizieren.21Mit diesem Bild und dieser auch ästhetischen Vorverurteilunghatten es die liturgischen Kantatenkompositionen des zweitältestenBachsohnes schwer, einen Platz in der Musikgeschichtsschreibung zufinden. Ein Schicksal, das Carl Philipp übrigens mit vielen anderen1718192021Ernst Bücken, „Musik des Rokokos und der Klassik“, in: Handbuch der Musikwissenschaft,Potsdam 1927, S. 157.Friedrich Blume, Geschichte der evangelischen Kirchenmusik. Zweite, neubearbeitete Auflage,herausgegeben unter Mitarbeit von Ludwig Finscher, Georg Feder, Adam Adrio und Walter Blankenburg, Kassel 1965, Abschnitt III „Verfall und Restauration“ von Georg Feder, S. 215-247.Vgl., ebd., S. 217f.Ebd., S. 227.Vgl., ebd. Zu hinterfragen ist freilich die Stimmigkeit dieser These auch vor dem Hintergrund, dass es sich bei Grauns „Tod Jesu“ um das wohl beliebteste Kirchenwerk derzweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts handelt, obwohl es doch bekanntlich durchgängigaus traditionellen Secco-Rezitativen, Da-Capo-Arien und Ähnlichem geformt ist. Vielmehr als die unveränderte Großform scheint es zunächst der „empfindsame“ und „galante“ Charakter der in sich geschlossenen Arien und Solosätze und der weitgehende Verzicht konsequenter Kontrapunktik zu sein, der die neue Epoche auszeichnet.
13Kirchenkomponisten des ausgehenden 18. Jahrhunderts teilen musste. Inneuerer Zeit wandelt sich dieses Bild, denn man stellt fest, dass „dieVorstellung kaum zu[trifft], mit Bach sei die Geschichte der Kirchenkantate zu Ende gegangen. Auch in der Folgezeit wurden Kantaten zunächst in annähernd gleichem Ausmaß komponiert und aufgeführt.“22Die Beschäftigung mit der nachbachischen Kantate – d.h., den Kantaten,die nach 1750 entstanden sind – ist demnach unabdingbar, soll das Bildder Kirchenmusikgeschichte des 18. Jahrhunderts vervollständigt werden. Dass dafür teilweise andere als die sonst üblichen Methoden angewandt, auf jeden Fall aber der Blickwinkel der Betrachtung verschobenund die Fragestellungen modifiziert werden müssen, versteht sich vonselbst.2.) Carl Friedrich Zelters abschätzige Bemerkung zu Bachs liturgischer Kirchenmusik, deren Handschriften er in der Sammlung der Singakademie vorfand und studierte, mag das Desinteresse an dieser Musikebenso wie das allgemeine ästhetische Urteil über diese Kantatenwährend des gesamten 19. und über weite Teile des 20. Jahrhundertswesentlich geprägt haben, oder war zumindest ein Spiegel der allgemeinen Auffassung. Zelter vermerkte 1825: „Daß er sich selber in seinenSingkompositionen nicht [eingefügt:] geistig frey gefühlt habe ließe sichdadurch errathen indem die für die Hamburger Kirchen von ihm bestimmte Musiken gar oft geflickt, andere Texte für neue Gelegenheitenuntergelegt ja mit fremden Kompositionen durchflochten sind. [ ], aberich besitze viele Kirchenmusiken von ihm worin sich Chöre oder Arienvon Homilius, G. Benda und dergleichen befinden um nur für denbestimmten Sonntag ohne viel Mühe eine bestimmte Musik aufzuführen!“23 Gerade dieses Pasticio-, das Übernahme- und Parodieverfahren scheint teilweise bis heute etwas suspekt. Darüber wird oft vergessen, dass sich der „große“ Johann Sebastian selbst in erheblichemAusmaß dieser Verfahren bediente. Zelters Einschätzung der Kompositionen ist demnach wenig schmeichelhaft, wenn er urteilt: „Als Singkomponist hat er nun nicht zur Wirkung gelangen können, die ihm alsInstrumentalkomponist jeder Kenner zugestand. Sein Rezitativ istspringend und wörtlich; seine Arie mehr deklamierend als kantabel undrecht melodisch24; seine Chöre liegen den Singstimmen meist zu hochund haben ein Mikrologisches das dem Chore nicht zusteht; seine222324Friedhelm Krummacher, Artikel „Kantate“, MGG2 Sachteil, Bd. 5, Sp. 1748.Carl Friedrich Zelter, Handschriftliche Bemerkungen zur Matthäuspassion 1769 (H 782)der Sammlung der Singakademie (SA 18) vom 14. Mai 1825, SA 5153, fol. 2v-3r. Zitiertauch von Miesner, S. 61f. (im Folgenden nur: Carl Friedrich Zelter). Auch die Tatsache,dass die Übertragung bei Heinrich Miesner letztlich unkommentiert blieb, zeigt die weitreichende Wirkung der Ästhetik Carl Friedrich Zelters bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.Heinrich Miesner, S. 62, überträgt hier fälschlich: „nicht melodisch“.
14Singfugen sind redlich mehr gekünstelt als fließend ja sie zerren sichwohl.“25 Immerhin gesteht er zu, dass „seine Stücke im Ganzen immererhaben im Styl und nicht schwerfällig [sind], wenn sie gut ausgeführtwerden.“26Diesem Desinteresse konnte die äußerst kurze und einzige Bemerkung Carl Philipp Emanuel Bachs über seine liturgische Musik in seinerfür Carl Burney abgefassten Autobiographie kaum entgegenwirken:„Singestücke für die Kirche und unterschiedene Feyerlichkeiten habe ichin ziemlicher Anzahl verfertiget, es ist aber nichts davon gedrucktworden.“27 Bachs Rechtfertigungen, er habe kompositorische Abstricheaufgrund der Erwartungen „gewisser Personen“, des Publikums undbestimmter Vorschriften machen müssen, beziehen sich offenkundigauch auf seine Kirchenkompositionen: „Weil ich meine meisten Arbeitenfür gewisse Personen und fürs Publikum habe mache müssen, so bin ichdadurch allezeit mehr gebunden gewesen, als bey den wenigen Stücken,welche ich bloß für mich verfertigt habe. Ich habe sogar bisweilenlächerlichen Vorschriften folgen müssen; indessen kann es seyn, daß dergleichen nicht eben angenehme Umstände mein Genie zu gewissenErfindungen aufgefordert haben, worauf ich vielleicht ausserdem nichtwürde gefallen seyn.“28 Ebenso bemerkenswert und zukunftsweisendsind Bachs Ausführungen im Folgenden; sie könnten passende Erwiderung auf die spätere Kritik Zelters sein: „Bey dieser Gelegenheit muß ichanführen, daß die Herrn Kritiker, wenn sie auch ohne Passionen, wie esdoch selten geschieht, schreiben, sehr oft mit den Kompositionen, welchesie recensiren, zu unbarmherzig umgehen, weil sie die Umstände, dieVorschriften und Veranlassungen der Stücke nicht kennen.“29 Noch bisin jüngste Zeit hält sich jedoch – und immer noch mit Berufung aufZelter – das Vorurteil, Carl Philipp Emanuel Bach „hatte wohl vonAnfang an ein eher ambivalentes Verhältnis zu seinem Amt als Kirchenmusiker. Seine Hauptaufgabe, Kirchenstücke für die hohen Festtage undgewöhnlichen Sonntage des laufenden Kirchenjahres bereitzustellen,erfüllte er zwar pflichtgemäß, aber mitunter nur wenig ambitioniert.“30252627282930Carl Friedrich Zelter.Ebd.Carl Philipp Emanuel Bach, Autobiographie, in: Carl Burney’s [ ] Tagebuch seiner Musikalischen Reisen. Dritter Band, [ ], Hamburg 1773, S. 207. (im Folgenden nur: CPEB, Autobiographie)Ebd., S. 208.Ebd.Andreas Glöckner, „’Mit fremden Compositionen durchflochten’. Carl Philipp Emanuel Bachund die Kirchenmusik seines Vaters“, in: Bach-Magazin, Heft 11 (Frühjahr/Sommer 2008),S. 7f.
15Mittlerweile scheint die Zeit allerdings reif, diese Stücke in engemZusammenhang mit den Umständen, den Vorschriften und Veranlassungen zu beurteilen. Das freilich setzt die genaue Kenntnis sowohldieses Kontexts als auch der Stücke selbst voraus. Zu bedenken giltfreilich auch, dass Zelters schroffste Kritik an der Kompositionskunstgeistlicher Arien aus heutiger Sicht als Vorzug gelten kann: „Das Mikrologische, Prizzelhafte der Cantilene scheint ihm aus der Schule seinesVaters anzukleben, dem [eingefügt:] als kräftig Deutschem die italienische Musik nicht zusagen wollen.“313.) Weiß man inzwischen aufgrund der genannten Studien zurSituation der Hamburger Kirchenmusikausübung in Bachs Amtszeitbereits erstaunlich viel, so war die Kenntnis der Werke und ihrer Gestaltbislang nur unvollständig. Wegen der fehlenden musikalischen Quellender Sammlung der Berliner Singakademie im Zeitraum zwischen 1945und 1999 war man auf die spärlichen Informationen Heinrich Miesners,auf die bisher bekannten Quellen in Berlin und Brüssel und auf Vermutungen aufgrund von einzelnen bekannten Textdrucken angewiesen. Diefür die Werkgestalt, für aufführungspraktische und Fassungsfragen unddie sich daraus ergebenden weitergehenden Fragen unverzichtbarenoriginalen Stimmensätze der Hamburger Aufführungen waren nichtzugänglich und konnten demnach nicht ausgewertet werden. Diese befanden sich nahezu vollständig in der Singakademie.32 Die Ostermusiken„Ist Christus nicht auferstanden“, „Den Engeln gleich“33, die Michaelismusik „Ehre sei Gott in der Höhe“, die Pfingstmusik „Herr, lehr unstun“ und die Marienkantate „Meine Seele erhebt den Herrn“ sind garnur als Unika in der Singakademie überliefert; sei es, dass keinePartituren existieren oder sich diese zusammen mit den Stimmen auch inder Singakademie befinden. Allein von der Existenz der Werke wussteman lediglich durch die Studie Heinrich Miesners.So stellt auch heute noch die Beschäftigung mit diesem Thema denWissenschaftler vor ungeahnte Probleme bereits im Vorfeld. So ist schonallein die Frage nach dem Umfang des Werkbestandes nicht eindeutig zubeantworten. Der Umgang Carl Philipps mit Kirchenmusik war durchaus pragmatisch. Er hatte zwar für figurale Musik an allen Sonn- undFesttagen zu sorgen, jedoch musste er dieser Verpflichtung nicht vorallem durch Eigenkompositionen nachkommen. Bach hatte lediglich die313233Ebd.Allein der originale Stimmensatz von Bachs Berliner Ostermusik „Gott hat den Herrnauferwecket“ (Wq 244 / H 803) war in der Berliner Staatsbibliothek überliefert (St 182).Bislang nur Eingangschor bekannt (P 373).
16sogenannten Quartalsmusiken34 besonders festlich und – zumindestteilweise – mit eigenen Kompositionen zu bestreiten.35 Und so legte sichBach einen Fundus an Kirchenkantaten für Aufführungen an den Sonnund Festtagen des Kirchenjahrs an, der eine beträchtliche Anzahl vonWerken umfasste. Darunter finden sich Stücke und z.T. ganze KantatenJahrgänge von Benda, Stölzel, Homilius, Fasch, Graun, Förtzsch, seinesHalbbruders Johann Christoph Friedrich und natürlich seines VatersJohann Sebastian. Auskunft darüber gibt uns der Nachlasskatalog.36Diese Werke bildeten eine breite Grundlage für Aufführungen in Hamburg.37 Zwar enthalten auch die Quartalsmusiken Übernahmen ausanderen Stücken bzw. Parodien, zum Teil könnte man sie deshalb auchals Pasticci bezeichnen, jedoch bestehen sie äußerst selten aus einer unbearbeiteten Kantate und enthalten überdies einen erheblich höhereneigenkompositorischen Anteil.Es ergeben sich daraus zwangsläufig eine Reihe von Fragen:Warum übernimmt und parodiert Bach auch für die Quartalsmusiken?Oder anders herum gefragt: Warum komponiert er hier zum Teil neu,wo ihm doch zahlreiche Festkantaten anderer Komponisten zur Verfügung standen? Und, warum führt er nicht vollständige Kantaten auf,sondern entnimmt Einzelsätze und setzt diese dann neu zusammen, was34353637Der Terminus „Quartalsmusiken“ ist eine Hamburger Besonderheit. Auf den Titeln derQuellen finden sich fast immer die Bezeichnungen „Quartalsmusik“ oder „Quartalsstück“. Es sind dies die Festkantaten zu den herausgehobenen Hochfesten Ostern,Pfingsten, Michaelis und Weihnachten.Bach hatte zweifellos das Bestreben, sich an den hohen Festtagen des Kirchenjahrs mitvornehmlich eigenen Kompositionen hören zu lassen. Reginald L. Sanders weist nach,dass die besondere Festlichkeit der Musiken zu Ostern, Pfingsten, Michaelis und Weihnachten eine Besonderheit der Hamburger Kirchenmusikausübung war, die sich im Laufder Zeit auf die vier Feste ungefähr am Schluss des jeweiligen Quartals herausbildete:„The Quartalsmusiken were scored for a larger orchestra that included trumpets anddrums and constituted ‚grosse Musik’. ‚Gewöhnliche Musik’, scored only for strings andwinds, was performed on the regular Sundays and Feasts. [ ] For accounting purposes,the calendar year in Hamburg was divided into the four quarters of Easter, St. John’s, St.Michael’s and Christmas. [ ]“ (Reginald L. Sanders, S. 17 FN 17). „In 1684, Telemann’spredecessor, Gerstenbüttel, made reference to successive performances, which, however,may not have been limited to the Quartalsmusiken.“ (Ebd., S. 17). Spätestens 1721 wurdedie Quartalsmusik zum Johannesfest von der des Pfingstfestes abgelöst. Für die Festmusiken wurde das Ensemble in Bachs Amtszeit von 14 an normalen Sonntagen auf 19 Musiker erweitert. Siehe: Ebd., S. 83 und Tabelle S. 88.Verzeichniß des musikalischen Nachlasses des verstorbenen Capellmeisters Carl Philipp EmanuelBach, [ ] Nebst angehängtem Verzeichnisse verschiedener vorhandenen Zeichnungen [ ], Hamburg 1790, Repr. in: Carl Philipp Emanuel Bach, Autobiography. Verzeichniß des musikalischenNachlasses, hrsg. von William S. Newman, Buren 1991 (Facsimiles of Early Biographies 4).(im Folgenden nur: NV)Zu nachweisbaren Kantatenaufführungen siehe Reginald L. Sanders, S. 123-128 undAppendix 5.2A Compositions performed liturgically by Bach, arranged by Composer, S. 266ff.
17in den seltensten Fällen nicht zumindest ohne Transposition getan war,meist ihm einen bedeutenden Arbeitsaufwand abverlangte? Undschließlich: Bei welcher Gelegenheit handhabt er es wie? Nur Einzeluntersuchungen könnten Antworten geben. Diese blieben jedoch bisherweitgehend aus. Mit der Parodieforschung eröffnen sich neue Möglichkeiten nicht nur der wissenschaftlichen Aufarbeitung, sondern auch derBewertung der Arbeit des Komponierenden, dessen Kunst der„Inventio“ zurücktritt zugunsten der „Elaboratio“, der Komposition imSinne der Zusammensetzens und Bearbeitens vorhandener Stücke fürneue Kantaten, die den allgemeinen und individuellen Ansprüchengenügen. Die Verwendung von etwas Altem für etwas Neues, das, sowird zu zeigen sein, das Bachsche Ideal der Kirchenkantate anstrebt,erfordert genaue Betrachtung und Bewertung der Auswahlkriterien, dersinnvollen Zusammensetzung und der Quantität und Qualität derBearbeitungen.Denn bislang freilich ist die Einstellung Bachs zur Gattung derKirchenkantate meistens gehörig missverstanden wo
nem Betreuer Prof. Dr. Helmut Loos (Leipzig). Ihm, Herrn Prof. Dr. Dr. Christoph Wolff (Cambridge/Leipzig) und Dr. Ulrich Leisinger (Salz-burg) habe ich nicht nur die Idee für das Thema der Studie zu verdan-ken, auf Ihren Antrag hin wurde mir auch in der Anfangsphase der Dissertation im Jahr 2005 ein Promotionsförderplatz der Universität