Transcription

2Somatosensible Reizantworten vonNerven, Rückenmark und Gehirn (SEP)M. Stöhr2.1Einleitung– 222.1.1 Klinische Bedeutung von SEP-Ableitungen – 222.1.2 Übersicht über wichtige Stimulations- und Ableitungstechniken– 232.2– 25Anatomie und Physiologie des somatosensiblen Systems2.2.1 Rückenmark und Hirnstamm2.2.2 Thalamus – 282.2.3 Kortex – 28– ußere und innere UntersuchungsbedingungenStimulationsorte – 34Reizparameter – 42Ableiteorte – 46Verstärker und Averager – 53Potenzialregistrierung und -ausmessung – 54Klinische Daten – 55– 332.4Normalbefunde– 33– 562.4.12.4.22.4.32.4.42.4.5SEP nach Armnervenstimulation – 56SEP nach Beinnervenstimulation – 85Kortikale Reizantwort nach Trigeminusstimulation – 105SEP nach N.-pudendus-Stimulation – 110Beeinflussung der somatosensiblen kortikalen Reizantwortendurch physiologische, pharmakologischeund untersuchungstechnische Faktoren – 1122.4.6 Auswertung von SEP-Kurven – 1132.5SEP bei Erkrankungen des peripherenund zentralen Nervensystems – 1142.5.12.5.22.5.32.5.4Erkrankungen des peripheren NervensystemsMyelopathien – 147Multiple Sklerose – 178Enzephalopathien – 197Literatur– 228– 115

22Kapitel 2 · Somatosensible Reizantworten von Nerven, Rückenmark und Gehirn (SEP)2.1Einleitung 2SEP-Ableitungen sind eine faszinierende Möglichkeitauf nichtinvasive Weise Informationen über die Funktion der somatosensiblen Leitungsbahnen im peripheren und zentralen Nervensystem zu erhalten.Vor der Durchführung derartiger Untersuchungenmüssen allerdings bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Vonseiten des Arztes ist eine umfassendeneurologische und neurophysiologischeAusbildung,einschließlich einer mindestens einjährigen Tätigkeit in einem Labor für evozierte Potenziale erforderlich. Der die Untersuchung durchführende neurophysiologische Assistent (MTA-F) benötigt voreiner selbstständigen Ableitung ein mindestenssechsmonatiges Training. Er muss in der Lage seindem Patienten den Ablauf und den Zweck der Untersuchung zu erklären und optimale Ableitebedingun-a Abb. 2.1 a, b. Somatosensible kortikale Reizantwortennach Stimulation des N. ulnaris am Ellenbogen (Superpositionstechnik). Bei rechtsseitiger Stimulation (a) treten die Reizantworten auf der linken Seite, maximal über der Postzentral-gen – insbesondere eine gute Entspannung – zuschaffen. Bereits während der Untersuchung musser eine kursorische Beurteilung der erhaltenen Kurven und deren Reproduzierbarkeit vornehmen können, um bei unzureichender Qualität Kontrollmessungen anzuschließen. Eine spezielle Qualifizierungwird bei Ableitungen im Operationssaal, auf der Intensivstation und bei Neugeborenen benötigt.2.1.1 Klinische Bedeutungvon SEP-AbleitungenVon der Kopfhaut des Menschen ableitbare somatosensible evozierte Potenziale (SEP) 1 wurden erstmals von Dawson (1947 a) beschrieben. Sie zeigtensich vorwiegend über der primären sensiblen Rindekontralateral zur Seite der Stimulation lokalisiert( Abb. 2.1). Eine genauere Analyse dieser Reizant1 s. Abkürzungsverzeichnis am Beginn des Buches.bregion (Spur 3) auf. Bei linksseitiger Stimulation (b) findet sicheine optimale Reizantwort über der Postzentralregion derrechten Hemisphäre (Spur 2). (Aus Dawson 1947 a)

232.1 · Einleitung2worten wurde erst nach Einführung elektronischerMittelungsverfahren (Dawson 1954) möglich, beidenen die in fester zeitlicher Beziehung zum Reizstehenden evozierten Potenziale aufsummiert,reizunabhängige Potenzialschwankungen, wie dasGrund-EEG oder Muskelartefakte, dagegen eliminiert werden. Auf diese Weise gelingt die Aufzeichnung und Messung niedrigster bioelektrischer Signale bis herab zu einer Größenordnung um 0,05 µV.Damit lassen sich die elektrischen Phänomene derImpulsgeneration und -übermittlung in den somatosensiblen Anteilen des peripheren und zentralenNervensystems von der Körperoberfläche aus abgreifen, was einen recht genauen Einblick in dieVorgänge der Impulsleitung und -verarbeitung erlaubt.Für die klinische Neurologie bedeutet die Registrierung somatosensibler Reizantworten vonRückenmark und Gehirn eine nichtinvasive diagnostische Hilfsmethode, die folgende über den klinischen Untersuchungsbefund hinausgehendenInformationen zu liefern vermag (Starr 1978):1. SEP-Messungen stellen eine objektive und mitgewissen Einschränkungen quantitative Funk-degeneration (bzw. einen Leitungsblock) inder betroffenen Leitungsbahn.4. Berechnungen der peripheren und zentralenImpulsleitungsgeschwindigkeit geben Auf-tionsprüfung des somatosensiblen Systemsdar. Dies ist von besonderer Wichtigkeit zumSomatosensible kortikale Reizantworten (SEP)können nach elektrischer Stimulation von Armnerven (Dawson 1947 a; Alajouanine et al. 1958),Beinnerven (Tsumoto et al. 1972; Terao u. Araki1975) und nach Stimulation von Trigeminus-Endästen (Stöhr u. Petruch 1979; Bennett u. Jannetta1980; Drechsler 1980) abgeleitet werden. Die bestePotenzialausprägung findet sich dabei über demAnteil des somatotopisch gegliederten sensiblenKortex, der dem stimulierten Körperabschnittentspricht, d. h. über dem Hand-, Bein- bzw. Gesichtsfeld ( s. Abb. 2.5). Darüber hinaus lassen sichniedrige kortikale Reizantworten nach elektrischerStimulation von Hautafferenzen in einzelnenRumpfsegmenten registrieren (Baust et al. 1972;Terao und Araki 1975; Jörg 1977; Jörg u. Hielscher1990). Damit ist es möglich, die den genanntenKörperregionen zugeordneten sensiblen Leitungsbahnen einer objektiven Prüfung zu unterziehen,wobei der Nachweis einer Läsion in der Regel durchalleinige Ableitung der kortikalen Reizantwortmöglich ist. Soll darüber hinaus der Ort der Schädigung innerhalb des ZNS lokalisiert werden, isteine ergänzende Aufzeichnung spinaler und sub-Nachweis klinisch inapparenter Läsionen dieses Systems und bei der Untersuchung von Patienten, die keine verwertbaren Angaben beider klinischen Sensibilitätsprüfung machenkönnen oder wollen (Kinder, Bewusstseinsgestörte, Psychotiker, Schwachsinnige, Patienten mit hysterischer Anästhesie, Simulanten).Dabei gelingt ein Läsionsnachweis häufig auchdann, wenn sich mit neuroradiologischen Methoden keine strukturellen Schädigungen aufdecken lassen.2. Bei Ableitung von mehreren Stationen deruntersuchten somatosensiblen Bahn und/oderAnalyse der in verschiedenen Abschnitten generierten frühen SEP-Komponenten (bei alleiniger Ableitung von der Kopfhaut) lässt sicheine Lokalisationsdiagnostik des vorliegendenKrankheitsprozesses vornehmen.3. Das Ausmaß und die Relation von Latenzverzögerungen und Amplitudenerniedrigungenerlauben Rückschlüsse auf einen möglichendemyelinisierenden Prozess oder eine Axon-schluss über Lokalisationsschwerpunkte systematischer Krankheitsprozesse mit Entmar-kungsvorgängen im peripheren und/oder zentralen Nervensystem.5. Besonders bei Entmarkungskrankheiten lassensich oft klinisch stumme Läsionen aufdecken.Darüber hinaus ist die Methode von zunehmenderBedeutung bei bestimmten physiologischen undpsychologischen Fragestellungen, z. B. beim Studium von Reifungs- und Alterungsprozessen vonSinnessystemen sowie bei der Aufdeckung affektiver und kognitiver Einflüsse auf die Verarbeitungsensorischer Informationen.2.1.2 Übersichtüber wichtige Stimulationsund Ableitetechniken

242Kapitel 2 · Somatosensible Reizantworten von Nerven, Rückenmark und Gehirn (SEP)kortikaler SEP-Komponenten notwendig, z. B.durch simultane Ableitung von Kopfhaut, Nackenund Erb-Punkt nach Armnervenstimulation.Krankheitsprozesse, die ausschließlich oder zusätzlichdas periphere Nervensystem (PNS) betreffen, erfordern entweder eine ergänzende Messung sensibler Nervenleitgeschwindigkeiten (NLG) mit konventionellen Methoden oder SEP-Ableitungen nachdistaler und proximaler Nervenstimulation, umaus der Latenzdifferenz die sensible NLG zwischenden Reizpunkten zu ermitteln.Durch simultane Aufzeichnung der SEP vonverschiedenen Ableitepunkten am Kopf und durchEinbeziehung späterer Potenzialanteile in die Analyse lassen sich unter Umständen auch kortikaleProzesse außerhalb der primären sensiblen Rindeerfassen und lokalisieren. Dabei sollen auch Normalbefunde diagnostisch hilfreich sein, so z. B.wenn ein normales SEP trotz schwerer Lagesinnstörung die Intaktheit des primären somatosensiblen Kortex aufzeigt und auf einen parietalen Herdhinter dem Gyrus postcentralis hinweist (Giblin1980).Aus dem bisher Gesagten geht bereits hervor,dass Ableitungen somatosensibler Reizantwortennicht schematisch, sondern angepasst an das jewei-lige klinische Bild und die sich daraus ergebendeFragestellung erfolgen müssen. So kann es z. B. beiVerdacht auf das Vorliegen einer Multiplen Sklerose (MS) diagnostisch wichtig sein, eine klinischstumme Beteiligung der Hinterstränge zu erfassen,was am häufigsten durch Ableitung der kortikalenReizantworten nach Beinnervenstimulation gelingt. Bei bereits klinisch deutlichen Hinterstrangsymptomen lässt sich bei ausgeprägter Latenzverlängerung der Nachweis eines demyelinisierendenProzesses führen. Bei Verdacht auf eine spinaleForm von MS ist das Auffinden eines etwaigen supraspinalen Herdes – z. B. durch Vergleich der zervikalen und kortikalen Reizantworten oder durchein pathologisches SEP nach Trigeminusstimulation – diagnostisch hilfreich. Bei demyelinisierenden Systemerkrankungen mit somatosensiblerBeteiligung kann es von Interesse sein, die Leitgeschwindigkeiten im peripheren und zentralen Nervensystem zu vergleichen, um den Lokalisationsschwerpunkt der Störung zu erfassen. Schließlichvermögen vergleichende Analysen der spinalen,subkortikalen und kortikalen Reizantworten beiRückenmarks-, Hirnstamm- und Thalamusprozessen eine recht genaue Lokalisation des Läsionsortesinnerhalb der sensiblen Leitungsbahnen zu liefern. Tabelle 2.1. Übersicht über die verschiedenen Stimulations- und Ableitetechniken zur objektiven Prüfung dessomatosensiblen Systems mittels evozierter Potenziale. Die Ableitepunkte an der Kopfhaut entsprechen dem internationalen 10 – 20-System und sind in Abschnitt 2.3 detailliert beschriebenStimulationsortOrt der AbleitungDiagnostische AussageN. trigeminusC5 bzw. C6Nachweis von Läsionen der trigeminalenLeitungsbahn zwischen Peripherie und KortexArmnervenC3′ bzw C4′Nacken (C 7 C 2)Erb-Punkt1. Globale Funktionsprüfung des somatosensiblenSystems2. Lokalisierung des Läsionsortes3. Messungen der Leitungsgeschwindigkeit im peripheren und zentralenAnteil des somatosensiblen SystemsNn. intercostalesparasagittalHöhenlokalisation von RückenmarksprozessenBeinnervenCz′Nacken (C 2)L 1, L 5Information über den funktionellden Beinen zugehörigen Anteil dessomatosensiblen Systems (Einzelheiten s. Spalte »Armnerven«)

252.2 · Anatomie und Physiologie des somatosensiblen Systems2Eine Übersicht über die wichtigsten Untersuchungs- und Ableitetechniken zur Prüfung der einzelnen Abschnitte des somatosensiblen Systemsfindet sich in Tabelle 2.1.Anatomie und Physiologiedes somatosensiblen Systems2.2 SEP-Ableitungen stellen eine Funktionsprüfung dessomatosensiblen Systems dar.Dieses besteht in der Peripherie aus Haut-, Muskelund Gelenkrezeptoren, die spezifische äußere bzw.innere Reize in Nervenimpulsfolgen transformieren. Auf mehreren aufeinanderfolgenden Ebenenwerden die Impulsfolgen in Neuronenverbändenweiterverarbeitet, wobei nur ein geringer Teil dessensiblen Informationsflusses bewusst erlebt wird(Zimmermann 1980). Bei der klinischen Sensibilitätsprüfung wird versucht, aus den Angaben desUntersuchten über die Wahrnehmung verschiedener Testreize Rückschlüsse auf die Funktion dieses Sinnessystems zu ziehen. SEP-Untersuchungenstellen demgegenüber eine objektive Funktionsprüfung dar. Diese gestattet innerhalb gewisserGrenzen den von der Mitarbeit des Untersuchtenunabhängigen Nachweis bzw. Ausschluss einer somatosensiblen Funktionsstörung, was unter anderem bei Aufmerksamkeits- und Bewusstseinsstörungen (einschließlich Narkose) bedeutsam ist.Außerdem lassen sich hiermit häufig Schädigungen des somatosensiblen Systems erfassen, die sichder klinischen Sensibilitätsprüfung entziehen.! Die Leitungsbahnen und Schaltstationen dessomatosensiblen Systems, die für die Generation spinaler, subkortikaler und kortikalerSEP-Komponenten bedeutsam sind, zählenzum sog. spezifischen somatosensiblen System ( Abb. 2.2).Das spezifische ( lemniskale) System der Somatosensorik umfasst anatomisch die Hintersträngesamt deren zuführenden Afferenzen aus der Peripherie, die Hinterstrangkerne, den medialen Lem- Abb. 2.2. Lemniskales System der Somatosensorik. Dorsalansicht der Hinterstränge und des medialen Lemniscus.1 Nucleus ventralis posterolateralis, 2 Lemniscus medialis,3 Fibrae arcuatae internae, 4 Nucleus cuneatus medialis,5 Nucleus gracilis, 6 Fasciculus cuneatus (Arm), 7 Fasciculusgracilis (Bein), 8 Radix dorsalis nervi spinalis, 9 Ganglionspinale. (Aus Nieuwenhuys et al. 1978)niscus, den ventrobasalen Thalamuskern, denTractus thalamocorticalis und die primäre sensibleRinde. Außerdem gehören hierzu ein Teil des Vorderseitenstrangs (der sog. Tractus neospinothalamicus) sowie der Tractus spinocervicalis (AlbeFessard 1967). Meldungen über mechanische Hautreize und über die Gelenkstellung werden mittelsdieses Systems schnell, modalitätsspezifisch undmit exakter somatotopischer Reizabbildung zumThalamus und Kortex geleitet. Der bewusstwer-

262Kapitel 2 · Somatosensible Reizantworten von Nerven, Rückenmark und Gehirn (SEP)dende Anteil der hierdurch übermittelten Information stellt die epikritische Sensibilität dar, d. h. taktile und kinästhetische Empfindungen von diskriminativem Charakter (Brodal 1969).Zum unspezifischen ( extra-lemniscalen) System zählen Teile des Vorderseitenstrangs (Tractuspalaeo-spinothalamicus und Tractus spinoreticularis), der Formatio reticularis des Hirnstamms sowieeinige Kerne des medialen Thalamus und derenkortikale Projektionsgebiete. Es ist durch langsameImpulsleitung – wahrscheinlich wegen zahlreicherin Serie durchlaufener synaptischer Umschaltungen – und durch diffuse kortikale Projektion charakterisiert (Zimmermann 1980). Seine etwaigeBeteiligung an der Generation späterer SEP-Komponenten ist bislang strittig. Der bewusst werdendeAnteil der in diesem System fortgeleiteten Information stellt die protopathische Sensibilität dar.2.2.1 Rückenmark und HirnstammDie durch mechanische bzw. elektrische Reizungvon Rezeptoren oder sensiblen Nervenfasern indu Abb. 2.3. Verschaltung der Hinterwurzelafferenzen im Rückenmark.Von einem Teil der dicken myelinisierten Fasern zweigen nach demEintritt ins Rückenmark Kollateralenab, die in den Hintersträngen nachrostral verlaufen, um überwiegend inden Hinterstrangkernen zu endigen.Die übrigen über die Hinterwurzeleintretenden Afferenzen zeigen einesynaptische Umschaltung auf Hinterhornneurone. Von diesen erfolgt eineWeiterleitung über gekreuzte undungekreuzte aszendierende Bahnensowie eine Umschaltung auf motorische und sympathische Efferenzender jeweiligen Rückenmarksegmenteund auf den Eigenapparat desRückenmarks. Hemmende Einflüsseauf das Hinterhornneuron bestehenüber absteigende Bahnen ( s. 2.2.4).(Aus Zimmermann 1980)zierten Impulse erreichen über die afferenten Nervenfasern der peripheren Nerven das Spinalganglion.! Bei den routinemäßig angewandten Reiztechniken ( s. 2.3) werden wahrscheinlich nur diedicken markhaltigen sensiblen Fasern derGruppen I und II erregt, d. h. Afferenzen vonden Mechanorezeptoren der Haut, Muskelnund Gelenke. Demgemäß betragen die ausden Latenzdifferenzen der SEP nach distalerund proximaler Nervenstimulation ermitteltensensiblen Nervenleitgeschwindigkeiten60 – 70 m/s. Die bei motorisch überschwelligerStimulation gemischter Nerven eintretendeMiterregung motorischer α-Fasern spielt beider Generierung der subkortikalen und kortikalen somatosensiblen Reizantworten vermutlich keine Rolle (Chiappa et al. 1980).Die über die Hinterwurzeln in das Rückenmarkeinlaufenden afferenten Impulse werden entsprechend den Verschaltungen der zentralen Neuritender pseudo-bipolaren Spinalganglienzellen weitergeleitet ( Abb. 2.3):

272.2 · Anatomie und Physiologie des somatosensiblen SystemsEin Teil der dicken myelinisierten Afferenzender Gruppen I und II besitzt Kollateralen, die direktin den ipsilateral aufsteigenden Hinterstrang eintreten und in den Nuclei gracilis und cuneatus inder Medulla oblongata endigen. Die Hintersträngesetzen sich jedoch nicht nur aus Neuriten 1. Ordnung, sondern, besonders im Funiculus gracilis,auch aus Neuriten 2. Ordnung (Glees u. Soler 1951;Rustioni 1973) und aus deszendierenden Axonenzusammen (Brown 1973).Alle anderen Hinterwurzelaxone verlaufen zuHinterhornneuronen und zwar:1. zu den Neuronen des Tractus spinothalamicus,deren Axone im kontralateralen Vorderseitenstrang aufsteigen (Bowsher 1961);2. zu den Ursprungszellen des lateralen Tractusspinocervicalis in Lamina III, IV und V desHinterhorns, deren Axone im hinteren Teil desipsilateralen Seitenstrangs zum Nucleus cervicalis lateralis in Höhe C 1 und C 2 projizieren(Rexed u. Ström 1952; Eccles et al. 1960);3. zu spinozerebellären Neuronen des Hinterhorns, deren Axone im ipsilateralen dorsalenund kontralateralen ventralen Tractus spinocerebellaris verlaufen;4. direkt oder über Interneurone zu motorischenVorderhornzellen sowie zu sympathischenNeuronen;5. Kollateralen endigen nach auf- oder absteigendem Verlauf im Hinterstrang an Hinterhornneuronen benachbarter Segmente (Szentágothai 1964).Als Generatoren der subkortikalen und der frühenkortikalen somatosensiblen Reizantworten sind besonders die Strukturen, in denen die Hinterstrangmodalitäten (Zweipunktediskrimination, Stereoästhesie, Vibrations- und Bewegungsempfindung)geleitet, umgeschaltet und verarbeitet werden, vonBedeutung. Deren Fortleitung erfolgt beim Menschen wohl überwiegend im Hinterstrang.! Semmes (1973) bezweifelt, dass die »Hinterstrangmodalitäten« tatsächlich nur andie Intaktheit der Hinterstränge und derenrostrale Fortsetzungen gebunden sind. AlsArgument wird angeführt, dass Hinterstrang 2durchschneidungen bei verschiedenen Versuchstieren sowie einzelnen Patienten öftersnicht oder nur vorübergehend zu den erwarteten Sensibilitätsausfällen führten (deVito 1954; Cook u. Browder 1965; Christiansen1966). Bei zusätzlicher Durchschneidung desTractus spinocervicalis waren die Ausfälleschwerwiegender und andauernder; ein völliger Funktionsausfall trat allerdings nur auf,wenn auch noch eine Vorderseitenstrangdurchschneidung vorgenommen wurde (Levitt u. Schwartzman 1966; Vierck 1966). SEPAbleitungen nach Stimulation des N. tibialisnach bilateraler Hinterstrangdurchschneidungführten bei der Katze zu keiner Veränderungder Reizantworten; diese fielen erst nach zusätzlicher Durchschneidung des Tractus spinocervicalis aus [bis auf eine über den Vorderseitenstrang geleitete niederamplitudige Komponente bei Nervenstimulation mit 30facher(!) Schwellenstromstärke (Katz et al. 1978)]. AmAffen wurde von Asanuma et al. (1980) nachHinterstrangdurchschneidung lediglich eineErniedrigung der kortikalen Reizantwort aufdie Hälfte des Ausgangswerts ermittelt; dasselbe Ergebnis fand sich nach Durchschneidung der ventrolateralen Rückenmarksanteile,einschließlich des Tractus spinothalamicus.Aus diesen Ergebnissen wurde geschlossen,dass die verschiedenen somatosensiblen Submodalitäten nicht ausschließlich, sondern nurbevorzugt in bestimmten aszendierenden Leitungsbahnen geleitet werden und dass beimAusfall einer Bahn unter Umständen eine weitgehende Kompensation möglich sei. Allerdings berichten Cusick et al. (1979) über einennahezu kompletten Ausfall der kortikalenReizantwort nach selektiver Hinterstrangausschaltung beim Affen und umgekehrt übereine intakte Fortleitung der somatosensiblenReizantworten zum ventrobasalen Thalamuskern und Kortex bei segmentaler Rückenmarkdurchschneidung mit selektivem Erhaltenbleiben der Hinterstränge. Unter diesen Bedingungen erwies sich nur die im Bereich desCentrum medianum des Thalamus registrierteReizantwort als stark erniedrigt. Simpson et al.

282Kapitel 2 · Somatosensible Reizantworten von Nerven, Rückenmark und Gehirn (SEP)(1981) zeigten, dass nach Peronaeusstimulation beim Affen die frühen Reizantworten (bis40 ms) an die Intaktheit der Hintersträngegebunden waren und dass die Vorderseitenstränge nur für spätere Potenzialanteile (mitLatenzen über 70 ms) eine mögliche Bedeutung besitzen.Insgesamt passen die zuletzt zitierten Befunde ambesten zu den bisherigen klinischen Erfahrungenmit SEP-Befunden bei Patienten mit umschriebenen Läsionen in einzelnen somatosensiblen Bahnen. So scheint die im Rahmen der Schmerztherapie gelegentlich durchgeführte Chordotomie mitAusschaltung des Vorderseitenstrangs im wesentlichen zu einem irreversiblen Ausfall des Schmerzund Temperatursinns zu führen. Darüber hinauswird das Berührungsempfinden, das teilweiseüber den Vorderseitenstrang geleitet wird (Rose u.Mountcastle 1959; Brown 1973), leicht herabgesetzt,während Zweipunktediskrimination, Stereoästhesie, Vibrations- und Bewegungsempfinden unbeeinflusst bleiben und nur bei Läsionen im Bereichder Hinterstränge beeinträchtigt werden.Die Axone des Hinterstrangs endigen z. T. inden Nuclei cuneatus und gracilis in der kaudalenMedulla oblongata an Interneuronen, die der Impulsverarbeitung innerhalb der Hinterstrangkerne dienen, sowie an Schaltneuronen, deren Axonedie Information zum Thalamus weiterleiten. Diesynaptische Übertragung auf die Schaltneuroneerfolgt mit einem hohen Sicherheitsfaktor, d. h.dass bereits wenige Impulse in einer afferentenFaser zur postsynaptischen Impulsauslösungführen.Die Axone der in den Hinterstrangkernen bzw.im Nucleus cervicalis lateralis befindlichen Neurone zweiter Ordnung kreuzen im Lemniscus medialisund projizieren zum ventrobasalen Kern des Thalamus. Die Fasern des Tractus neo-spinothalamicusschließen sich in der Medulla oblongata dem Lemniscus medialis an.Die epikritische Sensibilität des Gesichts läuftvorwiegend über den sensorischen Hauptkern desTrigeminus (der funktionell den Hinterstrangkernen entspricht) und – nach Kreuzung in der Trigeminusschleife – ebenfalls zum Ventrobasalkern desThalamus (Darian-Smith 1973).Inwieweit die Tractus spinocerebellares, welchemechanozeptive Informationen aus Haut, Muskeln und Gelenken zum Zerebellum übertragen,für einzelne SEP-Komponenten von Bedeutungsind, ist noch ungewiss.2.2.2 ThalamusDer spezifische Relaiskern des somatosensiblenSystems ist der ventrobasale Kern, der unterteiltwird in den Nucleus ventralis posterolateralis(VPL) und den Nucleus ventralis posteromedialis(VPM). Zum VPL projizieren vorwiegend die Neurone zweiter Ordnung aus den kontralateralen Hinterstrangkernen sowie der Tractus neospinothalamicus, zum VPM die entsprechenden Axone ausden Trigeminuskernen. Dass die spezifischen Thalamuskerne nicht nur der Weiterleitung der Impulse, sondern auch deren Verarbeitung dienen, wirddaraus ersichtlich, dass insgesamt nur 8% allerSynapsen in den ventrobasalen Relaisneuronenvon Endigungen des Lemniscus medialis besetztwerden (Welker 1973). Modalitätsspezifität und Somatotopik der einlaufenden Informationen bleibenim Thalamus erhalten (Bates 1973).Neuere Untersuchungen weisen darauf hin, dassneben dem VPL auch dem PO-Komplex (posterior group complex) und der Zona incerta einegewisse Bedeutung als somatosensiblen Umschaltstationen zukommt (Berkley 1986).2.2.3 KortexPrimäre sensible RindeDie Axone der Relaisneurone des ventrobasalenThalamuskerns endigen in zwei verschiedenenRegionen der Großhirnrinde: Die beim Primatenfunktionell entscheidende Repräsentation S I nimmtnahezu den gesamten Gyrus postcentralis ein, während die phylogenetisch ältere Repräsentation S IIam Fuß der Postzentralwindung und im parietalen

292.2 · Anatomie und Physiologie des somatosensiblen SystemsOperculum liegt. In S I ist – mit Ausnahme derMundregion – nur die kontralaterale Körperhälfterepräsentiert (Woolsey 1958), und es bestehen Verbindungen nur mit dem ipsilateralen Thalamus(Mehler 1966; de Vito 1967; Rinvik 1968). Die Ausschaltung von S I führt vor allem zu Störungen inder Lokalisation und der räumlichen Diskrimination von Hautreizen (Corkin et al. 1964). Das Kortexfeld S II ist wesentlich kleiner als S I und weisteine bilaterale Repräsentation der Körperoberfläche auf.Die somatotopische Abbildung der Körperoberfläche in S I entspricht nicht den tatsächlichenProportionen, sondern der funktionellen Bedeutung der einzelnen Körperteile mit überproportionaler Vertretung der Hand- und Mundregion, diebeim Menschen die höchste Innervationsdichte besitzen. Dabei spiegelt sich die Aufeinanderfolge derDermatome auf der Körperoberfläche in der kortikalen Repräsentation wider (Werner u. Whitsel1968), wobei zumindest einzelne Körperteile, wiez. B. die Hand, mehrfach repräsentiert sind (Jonesu. Powell 1973).Der somatosensible Kortex zeigt, außer der somatotopischen, eine weitere Gliederung in verschiedene Felder mit unterschiedlichem Afferenzzustrom (Jones u. Powell 1973; Abb. 2.4):Area 3 a erhält Informationen von primärenMuskelspindelafferenzen, Area 3 b von Hautafferenzen (Tast- sowie möglicherweise Schmerz- undTemperatursinn) und Area 1 Afferenzen von Hautund Gelenken. Area 2 erhält einerseits Afferenzenvon tiefliegenden Mechanorezeptoren; andererseits finden sich hier komplexe Neurone, die z. B. Abb. 2.4. Schema der Gliederung des sensomotorischenKortex. Sagittalschnitt durch die sensomotorische Zentralregion. (Aus Kornhuber 1972)2spezifisch auf bewegte Hautreize bestimmter Richtung antworten (Hyvärinen et al. 1972). Bei Primaten erhält nur Area 3 b eine starke thalamische Projektion, während zu Area 1 und 2 deutlich wenigerthalamokortikale Fasern, zudem solche von dünnerem Kaliber verlaufen. Die meisten ventrobasalen Thalamusneurone senden ihre Axone nur ineines der genannten Rindenfelder. In den Assoziationsfeldern des parietalen Kortex (Area 5 und 7)liegen überwiegend komplexe Neurone, die wenigerdurch einfache Reize, als durch funktionell sinnvolleReizkombinationen erregt werden und integrativenFunktionen dienen.! Abtragung dieser Assoziationsfelder beimAffen führt demgemäß zu einer Beeinträchtigung komplexer somatosensibler Funktionen,wie der Stereoästhesie bzw. der Kinästhesie(Bates u. Ettlinger 1960; Wilson 1965). VonSemmes (1973) wurde kritisch eingewandt,dass es sich beim Tasterkennen von Objektenum keinen rein rezeptiven Vorgang handle,sondern dass in diese Leistung auch die Artdes Betastens, d. h. ein motorischer Vorgangintegriert sei.Der ipsilateralen Hemisphäre wird in Bezug auf somatosensible Wahrnehmungenmeist keine Bedeutung beigemessen, jedochsind im Tierexperiment die sensiblen Ausfällein einer Körperhälfte nach bilateralen Läsionen schwerwiegender als nach alleiniger kontralateraler Schädigung (Semmes u. Mishkin1965).Die Zytoarchitektonik der primären sensiblen Rinde entspricht dem Typ des granulären Kortex mitbesonders starker Ausprägung der äußeren undinneren Körnerschicht (II. und IV. Schicht), wobeidie spezifischen thalamo-kortikalen Afferenzen indichten Plexus in Lamina IV enden, ohne vorherKollateralen zu anderen Rindenschichten abzugeben.! Die Nervenzellen sind in S I und S II vertikal zurOberfläche in Neuronensäulen (Columnen)angeordnet, die sich über alle Rindenschichten erstrecken und funktionelle Einheiten fürLokalisation und Modalität darstellen (Mount

302Kapitel 2 · Somatosensible Reizantworten von Nerven, Rückenmark und Gehirn (SEP)castle 1957; Werner u. Whitsel 1968). Die seitliche Ausbreitung der terminalen Axonarborisation der spezifischen thalamo-kortikalenAfferenzen entspricht mit 0,2 – 0,5 mm etwadem Columnendurchmesser in S I. Alle in einerColumne angeordneten Zellen antworten aufeinen entsprechend lokalisierten peripherenHautreiz mit annähernd identischen Latenzzeiten (Mountcastle 1957).Die thalamo-kortikalen Neurone endigen teilweisedirekt an den dendritischen Fortsätzen der Pyramidenzellen, zum anderen Teil an Typ-7-Neuronen(Jones u. Powell 1973; Jones 1975). Die Axone letzterer Zellen treten in synaptischen Kontakt mit denapikalen Dendriten der Pyramidenzellen, die alsGeneratoren der kortikalen Reizantwort angesehen werden (Creutzfeldt u. Houchin 1974). Die Neurone der Area 3 b und 1 haben überwiegend kleineund kontralateral gelegene rezeptive Felder.Verbindungen zwischen sensiblem Kortexund anderen HirnarealenDie primäre sensible Rinde zeigt Verbindungen mitverschiedenen kortikalen und subkortikalen Strukturen:1. Die einzelnen Areae von S I stehen in wechselseitiger Verbindung mit S II (Jones u. Powell1973).2. Reziproke Verbindungen zum motorischenKortex (Area 4) dienen der Kontrolle von Bewegungen, wobei z.B. die Handregion der Postzentralwindung mit der Handregion der Präzentralwindung verbunden ist (Pandya u. Kuypers1969).3. Spärlichere Bahnverbindungen bestehen zursupplementär-motorischen Rinde (Jones u.Powell 1968, 1969).4. Einbahnige Verbindungen zu den parietalenAssoziationsfeldern (Area 5 und 7) stehen imDienst der Integration der Sinneseindrücke,einschließlich der somatosensibel-visuellen Integration.5. Ausgedehnte kommissurale Verbindungen zurkontralateralen somatosensiblen Rinde weisennur die Repräsentationen von Kopf, Rumpf undproximalen Gliedmaßenabschnitten auf (Ebneru. Myers 1962).6. Deszendierende Verbindungen zu Thalamus,Hinterstrangkernen und Rückenmark erlaubeneine kortikale Kontrolle der afferenten Zuflüsse( s. 2.3.4).Evozierte Potenziale im somatosensiblenKortexDie somatotopische Gliederung des sensiblen Kortex lässt sich, außer durch lokale Kortexreizung amwachen Menschen (Foerster 1936; Penfield u.Rasmussen 1950), auch durch Ableitung evozierterPotenziale von der Hirnoberfläche nach sukzessiver Rezeptorstimulation in verschiedenen Hautarealen ermitteln (Woolsey u. Erickson 1950; Jasperet al. 1960; Kelly et al. 1965), wobei die Ergebnissebeider Methoden eine gute Übereinstimmung aufweisen (Libet 1973). Dabei hat das primäre evoziertePotenzial (der Initialkomplex), das über den schnellen lemniscalen Weg mit minimal drei Synapsenverläuft, eine maximale Amplitude in dem Arealvon S I (und S II), welches dem Projektion

Nerven, Rückenmark und Gehirn (SEP) M. Stöhr 2.1 Einleitung - 22 2.1.1 Klinische Bedeutung von SEP-Ableitungen - 22 2.2 Anatomie und Physiologie des somatosensiblen Systems - 25 2.2.1 Rückenmark und Hirnstamm - 26 2.2.2 Thalamus - 28 2.2.3 Kortex - 28 2.3 Methodik - 33 2.3.2 Stimulationsorte - 34 2.3.3 Reizparameter - 42